Erwartet hatte ich es nicht, aber eine Überraschung war es auch nicht. Zu seltsam muteten die Reaktionen Chucks auf bestimmte Dinge, Jimmy betreffend, an. Zum Beispiel seine gespielte Freude, als Jimmy die Anwaltsprüfung besteht, oder sein ungläubiges "Das hab ich übersehen?" bei den Sandpiper-Unterlagen, woraufhin Jimmy sich sogar noch klein macht und sagt, auch ein blindes Huhn finde mal ein Korn. Auch die spontanen Ausbrüche, Verschlimmerungen, Verbesserungen, standen immer im Zusammenhang mit Jimmys Aktionen. Er rührt die Werbetrommel, Chuck erleidet fast einen Zusammenbruch, er beschäftigt ihn, Chuck geht es fast schlagartig besser, er wird von HHM hintergangen, Chuck's Zustand verschlimmert sich wieder. Wenn der Ausbruch von Chuck's Krankheit mit dem Zeitpunkt übereinstimmt, an dem Jimmy HHM als Zusteller verlassen hat, dann ist relativ eindeutig,
was die Ursache dafür ist. Für einen so empfindsamen Mann wie Chuck, für den das Recht heilig ist, wohinter sich weniger Elitarismus denn Passion verbirgt, muss eine so verräterische Tat, wie die, die er begeht, indem er unaufrichtig zu Jimmy ist, so selbstmörderisch sein, dass es ihm sein eigener Körper nicht verzeiht, seine Prinzipien so sträflich zu brechen. Es ist das Schuldbewusstsein, dass ihn dermaßen belastet, dass er unfähig wird, alleine zurechtzukommen. Auf diversen englischsprachigen Portalen hat sich bereits der Ausspruch FuckChuck eingebürgert, ein Term, der der zunehmenden Verachtung der Fans ihm gegenüber Ausdruck verleihen soll. Ich kann jedoch nicht glauben, auch, weil Breaking Bad es vorlebte, dass Heimtücke sein Motiv ist. Nimmt man zusammen, was wir alles aus der Vergangenheit, nicht nur über Jimmy, sondern auch über Chuck erfahren haben, ergibt sich ein komplexeres Bild.
Vielleicht gelingt es uns, dieses Stück für Stück zusammenzusetzen?
"Slippin' Jimmy" muss ein Schandfleck für die Familie gewesen sein. Man stelle sich das einmal vor: Der Vorzeigesohn ein renommierter Anwalt, der den richtigen Weg gegangen ist, sich dem Gesetz mit Leib und Seele verschrieben hat, auch Rückschläge immer gut weggesteckt hat, bis er es geschafft hatte. Und dann Jimmy, der jeder Verantwortung zu entschlüpfen weiß, der sich durchmogelt und dabei stets lügt, betrügt und hintergeht. Der totale Gegensatz zum aufrechten Chuck. Solche Gegensätze werden durch die familäre Bindung noch potenziert, sie gewinnen an Schärfe und verletzen mehr. Jimmy wird man immer vorgehalten haben, wieso er denn nicht so sei wie sein Bruder, was furchtbarer nicht sein könnte für die Persönlichkeitsentwicklung. Scham und Wut und Trotz müssen Jimmy immer weiter in diese Richtung getrieben haben. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Chuck auf der anderen Seite wird stets mit der Belastung konfrontiert gewesen sein, für beide Söhne nun der Gute sein zu müssen und stets das Vorbild. Gleichwohl fühlt auch er die Schuld, zum Teil mitverantwortlich für Jimmy's Weg zu sein, da sein strahlendes Vorbild es Jimmy nie gestattete, aus seinem Schatten herauszutreten. Dazu kommt die Enttäuschung und der Frust, zu sehen, wie Jimmy so weitab vom Stamm fällt und wiederholt die Familie hintergeht, indem er Schande über ihren Namen bringt. Die beiden haben ein äußerst ambivalentes Verhältnis zueinander, dass durch die lebenslange familäre Verknüpfung ein und desselben Namens in Liebe verbunden ist, durch die Erfahrungen und Verletzungen der Vergangenheit, aber erheblich in ihrer Kommunikation gestört. Das erklärt, wieso Jimmy Chuck die Zeitung vorenthält, in der er als Retter in der Not dargestellt wird und wieso Chuck Jimmy nicht sagt, wieso dieser nie bei HHM eine Anstellung bekommen kann. Dahinter steht Misstrauen, und eine falsche Auffassung von Liebe, die meint, man dürfe dem Gegenüber die Wahrheit nicht zumuten.
Als Chuck Jimmy nun aus dem Gefängnis holt, glaubt er gar nicht daran, dass sich Jimmy ändern kann, zu prägend sind seine vorherigen Erfahrungen. Aber Jimmy ist so verzweifelt und wohl so hart auf die Schnauze geflogen, dass er es ernst meint. Chuck sagte, wie stolz er war, dass Jimmy in der Kanzlei als Zusteller angenommen wurde. Möglicherweise hatte er auch dort seine Finger im Spiel, gutgemeint natürlich. Denn obwohl Chuck seinen Bruder liebt und ihm gerne helfen möchte, schämt er sich gleichzeitig für ihn und möchte nicht, dass dessen Vergangenheit mit seinem guten Namen in Berührung kommt. Auf einem Bankett würde Chuck nie neben seinem Bruder sitzen und auch nie wären beide auf ein und demselben Firmenfoto zu sehen. In diesen Jahren wird sich sogar der persönliche Kontakt auf ein Minimum beschränkt haben. Chuck hat Jimmy eine Nische zugewiesen, in der dieser in sicherem Abstand aber dennoch in überschaubarer Nähe ist. Als Jimmy die Anwaltsprüfung besteht, ist Chuck ehrlich geschockt. Er kommt aber gar nicht auf den Gedanken, welche Leistung dahinter steht, sondern kann nur daran denken, was Jimmy einst war. Er sieht in Jimmy noch immer eine Bedrohung für die Ordnung. Zwar gezähmt, aber wie sicher kann man da schon sein? Dass Jimmy Chuck sagte, dass er Anwalt ist, war eine Hiobsbotschaft, als hätte er ihm gesagt, er hätte eine Bank ausgeraubt. Vermutlich wäre Chuck damit sogar besser umgegangen, denn es entspräche seinem Bild von Jimmy. Seine Auffassung von Recht und welche Passion für die Ausübung des Rechts nötig sei, lässt es nicht zu, Jimmy als vollwertigen Anwalt anzuerkennen. Gleichwohl muss ihm schamhaft bewusst geworden sein, dass Jimmy dass auch wegen ihm tut. Er vergöttert ihn, er möchte so sein wie er und als er die Chance erkennt, die sich ihm bietet, seinem Idol näherzukommen, ergreift er sie! Jimmy ist in der Hinsicht der typische kleine Bruder. Und Chuck der typische ältere Bruder. Denn der möchte gar nicht, dass Jimmy ihm nacheifert, er möchte am liebsten gar nichts mit ihm zu tun haben. Das ist die unbewusste Motivation von Chuck's Handlungen: Er versteht Jimmy's Annäherung aus Bewunderung als Bedrohung für seine Existenz, möglicherweise fürchtet er sogar die Potenziale, die in Jimmy schlummern und die nur nie in ihm wach wurden, weil er sein Leben lang selbstverstärkend die Rolle einnahm, die man ihm zuwies. Jimmy würde zu etwas Unkontrollierbarem, einer Gefahr. Unsicherheit überfällt Chuck, weil er unfähig ist, anzunehmen, dass Menschen sich vielleicht doch ändern können. Gleichwohl weiß er, dass es falsch ist, was er empfindet. Er belügt sich selbst, indem er Hamlin wie einen Schutzschild vor sich stellt und ihn Jimmy verklickern lässt, dass dieser nicht bei HHM arbeiten darf - offensichtlich auch durch die Blume. Aber damit kann Chuck seine Unsicherheit nicht abstreifen und nunmehr ist Jimmy auch nicht mehr in kontrollierbarer Nähe. Aus Ängstlichkeit um sich selbst, was man fälschlicherweise als Fürsorglichkeit für Jimmy verstehen könnte, bindet er ihn durch eine chronisch ausbrechende, psychosomatische Krankheit dauerhaft an sich. Er bewirkt damit zwei Dinge auf Kosten der eigenen Gesundheit:
Er kann Jimmy's Aktivitäten relativ gut überwachen. Und er sorgt gleichzeitig dafür, dass sich Jimmy nie mit voller Konzentration seiner Anwaltskarriere widmen kann, weil er, sein Bruder, wie ein Mühlstein der Belastung an seinem Bein hängt. Dass Jimmy das alles gar nichts ausmacht, dass er diese Belastung schweigend erträgt, sie aus Hingabe zu seinem Bruder sogar gerne mitschleppt, entgeht Chuck ebenfalls. Jimmy sagte es und ich wünschte es mir auch: Zwei McGills, vereint gegen das Übel, was für ein Gespann!
Aber Chuck könnte das nie zulassen, er empfindet ein tiefes Misstrauen gegenüber seinem jüngeren Bruder. Nicht völlig zu Unrecht, muss man dazu sagen und trotzdem ist es falsch. Auch hier zeigt sich wieder, die Bedeutung der Kommunikation und die fatalen Auswirkungen der Fehlkommunikation.
Wie wird es nun weitergehen mit Chuck und Jimmy? Ich könnte mir vorstellen, dass Jimmy in einem Akt der sich selbst erfüllenden Prophezeiung ein wenig mehr zu seinem Alter Ego "Saul Goodman" mutiert. Wir neigen dazu, die Rollen einzunehmen, die man uns zuweist und da Chuck Jimmy eindeutig klar gemacht hat, was er von seinen Fähigkeiten als Anwalt hält, könnte dieser in seiner Frustration tatsächlich annehmen, er könne es nie in eine Kanzlei wie HHM schaffen und sei halt dafür gemacht, nur ein schmieriger Winkeladvokat zu sein. Möglicherweise wird ihm hier die Handlung um Mike ein wenig bei seinem zukünftigen Berufsweg auf die Sprünge helfen.
Und Chuck: Der wird wohl kaum in Anzug und Krawatte am nächsten Tag zu HHM spazieren und wieder arbeiten. Erleichterung hat er seinem geplagten Gewissen zwar schon verschafft, indem er Jimmy die Wahrheit sagte, aber an seinen Gefühlen ändert das nichts. Er hat die Kontrolle über ihn verloren und er kann ihn, so "rechtschaffen" wie er ist, nicht einfach aufgeben. Ich bin gespannt, wie sie diese Angelegenheit auflösen und die Staffel zu einem wohlverdienten Finale führen.
tl;dr
richtig so?