Bist du ein wenig mit der Serie vertraut oder so gar nicht?
Die Stärken von "The Wire" liegen in jeder Staffel in Aufbau, Komplexität, die behandelten Themen, die unglaublich gut gezeichneten Charaktere, die Dialoge, kurz: im "Writing". Jede Staffel ist aufgebaut wie ein Kapitel in einem Buch, das als ganzes "The Wire" ergibt. Die erste Staffel behandelt die Projects, die Drogenviertel Baltimores, zeitgleich mit dem Police Department, welches in sich korrupt und und genauso von Machtsucht und Manipulation gezeichnet ist wie die Drogencrews, die sie eigentlich bekämpfen sollen, aber aufgrund von Karriere- und Statistikspielen nur scheitern kann.
Die zweite Staffel befasst sich in einem unglaublichen Wechsel des Fokusses mit den Hafenarbeitern und damit der Arbeiterklasse Baltimores (d.h. etliche neue Charaktere), insbesondere Frank Sobotka, dem Gewerkschaftsführer, der sich, da die Arbeit am Hafen immer knapper wird, mit Schmugglern einlässt. Zeitgleich verfolgen wir weiterhin das Schaffen der Drogencrew der ersten Staffel und natürlich auch weiterhin die Arbeit des Police Departments, was alles in sich zusammen ein zunehmend komplexeres Bild schafft und gleichzeitig ganz nebenbei die Grundsteine für die dritte Staffel legt, welche sich wiederum auf den Drogenhandel fokussiert, allerdings durch die zusätzliche Thematik der Politik (sowohl im Rathaus als auch in den Drogencrews) eine wiederum größere Komplexität erlangt. Wir verfolgen den Aufstieg eines Abschaums von Politiker, wie er im Buche steht, zeitgleich den Aufstieg einer neuen Drogenorganisation, den Untergang der vorherigen und natürlich mehr denn je die Vorgänge des Police Departments, dessen Ineffektivität und Stumpfsinnigkeit einen Major schließlich dazu bringt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. So wurden in der dritten Staffel auch erstmals, wie ich finde, tatsächliche Lösungsansätze diskutiert bzw. auf die Probe gestellt. Und wie gesagt, Politiker, neue Drogenorganisation: Haufenweise neue, einzigartige Charaktere, und ein immer dichter werdendes, komplexes Bild der Stadt Baltimore. In Angesicht deiner Frage möchte ich erwähnen, dass sehr viele Leute Staffel 3 als ihre Lieblingsstaffel nennen, wobei die objektive Genialität und Klasse von Staffel 4 eigentlich so gut wie nie in Frage gestellt wird und oft als die beste Staffel der gesamten Fernsehgeschichte bezeichnet wird.
Was Staffel 4 so besonders macht, ist vielleicht schwierig zu erklären, wenn man mit "The Wire" nicht vertraut ist, aber dafür umso offensichtlicher, wenn man sie sich einfach ansieht. Staffel 4 nimmt meiner Meinung nach alles, was die bisherigen Staffeln so großartig gemacht hat und setzt noch ein Level an Dichte, Verknüpfung der individuellen Institutionen und Charakterzeichnung drauf. Das gepaart mit einer Thematik, die jedem zumindest ans Herz geht, wenn nicht sogar in die Knochen fährt und wiederum neuen, großartig gezeichneten und gespielten Charakteren, und du hast ein Meisterwerk von einer Staffel. Staffel 4 behandelt das Schulsystem Baltimores bzw. Amerikas als Institution, neben den in früheren Staffeln eingeführten Institutionen Politik, Polizei, Drogenorganisation, zeigt dessen Fehler und Mängel auf, zeigt uns die Kinder, die vom System im Stich gelassen werden, weil sich (genau wie in Politik und Polizei) alles um Statistiken und Noten dreht. Einzelne Handlungen z.B. eines Polizisten haben unglaublich bittere Auswirkungen auf Schulkinder, die wiederum mit Drogenhändlern interagieren. Jede Szene ist wichtig, alles ist verknüpft. Dazu muss man sagen, dass Staffel 4 auch einiges an Ernsthaftigkeit zunimmt und mitunter verflucht düster ist, was dadurch noch verstärkt wird, dass es hier um das Schicksal von Kindern geht, die ihrer gesamten Situation völlig hilflos gegenüberstehen.
Das großartigste für mich an der ganzen Staffel ist, dass wir durch die Charakterentwicklungen der Kinder so etwas wie ein "Prequel" zu "The Wire" innerhalb von "The Wire" bekommen, da ersichtlich wird, wie gewisse Charaktere, die wir schon 3 Staffeln begleitet haben, zu dem geworden sind, was sie sind.
Keine Ahnung, ob das irgendeinen Sinn ergibt, am besten ist immer noch, sich das Ganze einfach anzusehen, dann weiß man, wovon alle sprechen. Es lohnt sich definitiv.