Aufgrund der regelmäßig stattfindenden freien
Wahlen muss die
Politik den Aspekt der
Herrschaft auf Zeit stets mit einkalkulieren. Die Politiker müssen, wenn sie wieder gewählt werden wollen, die Meinungs- und die Willensbildung der Wählerschaft berücksichtigen. Das gilt unabhängig davon, ob sich durch Kreuze auf dem Wahlzettel die Machtverhältnisse ändern oder nicht. Die Einflussmöglichkeiten des Bürgers auf die Politik sind somit umfassender und längerfristiger, als es der kurze Wahlakt suggeriert, sofern auch faktisch unterschiedliche Personen, Parteien und Programme zu wählen sind. Parteien und Politiker reagieren auf Trends der öffentlichen Meinung und berücksichtigen die Erwartungen sowie Reaktionen ihrer Wähler in ihren Entscheidungen. Karl R. Popper hat diesen Zusammenhang treffend beschrieben: "Jede
Regierung, die man wieder loswerden kann, hat einen starken Anreiz, sich so zu verhalten, dass man mit ihr zufrieden ist. Und dieser Anreiz fällt weg, wenn die Regierung weiß, dass man sie nicht so leicht loswerden kann."
Die Bürgerinnen und
Bürger entscheiden nicht nur über die Verteilung der politischen
Macht für eine bestimmte Zeit, sondern sie legitimieren sie auch. Regieren kann nur dann legitim sein, wenn es auf einer Form der Zustimmung der Regierten beruht. Wahlen legitimieren politische Herrschaft, kontrollieren die Regierenden und garantieren die Bindung der Politik an die Meinungen der Regierten. Die Regierung bleibt durch die Wahlen gegenüber der Wählerschaft politisch verantwortlich. Der Wähler nimmt durch den Wahlakt aktiv am politischen Entscheidungsprozess teil. Aber auch die
Nichtwähler üben Einfluss aus. Die Höhe der Wahlbeteiligung hat Auswirkungen auf das Ergebnis. Je nach Wahltypus können Wähler über die Zusammensetzung der Parlamente, die Regierungsbildung und sogar über die politischen Sachprogramme der kommenden Jahre entscheiden. Die Auswirkungen der Stimmabgabe sind vielfältig. Sie bedeuten weit mehr als die
Entscheidung darüber, wer der zukünftige Regierungschef sein wird.
Wahlen und
Demokratie hängen eng zusammen: Ohne Wahlen zu den Institutionen der politischen Macht gibt es keine Demokratie im westlichliberalen Grundverständnis. Gemeint ist damit die
Anerkennung von Herrschaft, die jedoch durch
Gewaltenteilung, die Geltung von Menschenrechten und die Chance der
Opposition, die Macht zu übernehmen, kontrolliert wird. Das westlich-liberale Grundverständnis drückt sich in der repräsentativen Demokratie aus. Diese Demokratieform hat sich in einem jahrhundertelangen Prozess als die für den demokratischen Verfassungsstaat angemessene Ordnung herausgebildet. Ihre Grundlage ist die Konkurrenztheorie der Demokratie. Gemeint ist damit - im Gegensatz zur Identitätstheorie - die Anerkennung und
Legitimität unterschiedlicher
Interessen in einem politischen Gemeinwesen. Die politische Willens- und Meinungsbildung geschieht dabei über den konfliktträchtigen Austausch von heterogenen Interessen.
Voraussetzung dafür ist jedoch, dass ein Minimum an gemeinsamen Grundüberzeugungen in der
Gesellschaft vorhanden ist. Dazu gehört die Anerkennung des Mehrheitsprinzips als Grundlage der Entscheidungsfindung. Das
Mehrheitsprinzip beschreibt einen Rechtsgrundsatz, nach dem sich eine
Minderheit - das sind diejenigen, die bei einer
Abstimmung unterliegen - dem Beschluss der Mehrheit zu fügen hat. Die freie Selbstbestimmung Einzelner wird dadurch zwar eingeschränkt, aber ohne Mehrheitsprinzip wären Entscheidungen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht zu fällen. Es wird dabei von den Unterlegenen erwartet, dass sie diesen Entschluss respektieren und anerkennen. Das Mehrheitsprinzip liegt auch dem
Wahlrecht zugrunde, bei dem die Anerkennung der politischen Mehrheiten verlangt wird. Damit daraus jedoch keine Tyrannei der Mehrheit wird, die sich über unveräußerliche
Menschenrechte hinwegsetzt, muss das Mehrheitsprinzip durch den Minderheitenschutz ergänzt werden. Die Gültigkeit der Mehrheitsregel hat die Beachtung der Menschenrechte zur Voraussetzung. Das Prinzip des Minderheitenschutzes verbietet es, dass kleinere Gruppierungen von der politischen Willensbildung ganz ausgeschlossen werden können. Nach dem Verständnis des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland sind Mehrheitsentscheidungen nur dann akzeptabel, wenn das
Recht der politischen Minderheit gesichert ist. Doch durch was? Zunächst einmal durch die Garantie der gleichen Ausgangschancen, ihre Meinung im politischen Wettbewerb durchzusetzen. Dazu eignen sich Wahlen, denn sie legitimieren die Herrschaft nur auf begrenzte Zeit. Keine Gruppierung regiert auf Dauer. Mehrheitsdemokratische Elemente werden jedoch auch durch Gerichte und durch den gewaltenteilenden
Föderalismus durchbrochen. Und letztlich dient auch die grundsätzliche Möglichkeit, dass eine neue Mehrheit im
Parlament Beschlüsse der alten Mehrheit ändert, dem Minderheitenschutz. In Wahlen drückt sich jedoch nicht nur die Verbindung von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz aus. Denn Demokratie ist außer Herrschaft auf Zeit auch Herrschaft mit Zustimmung des Volkes. Das ist nicht zu verwechseln mit einer Herrschaft des Volkes. Herrschaft mit Zustimmung des Volkes - dahinter verbirgt sich der Gedanke der
Repräsentation. Der Wahlbürger nimmt indirekt durch Repräsentanten an der Ausübung staatlicher Herrschaft teil. So regelt es das Demokratiegebot in Artikel 20 des Grundgesetzes. Das Volk ist Träger der
Staatsgewalt.
Volkssouveränität bedeutet in diesem Kontext eine durch Wahlen legitimierte Herrschafts- bzw. Regierungsform mit verfassungsmäßig geregelter periodischer Zustimmung des Volkes. Volkssouveränität ist nicht Volksherrschaft oder Selbstregierung, sondern Herrschaft mit Zustimmung des Volkes durch gewählte Repräsentanten. Die Abgeordneten sind "Vertreter des ganzen Volkes" (Art. 38 GG). Sie sind während ihrer Amtszeit nicht an Aufträge und Weisungen gebunden, wie es in Artikel 38 des Grundgesetzes weiter festgelegt ist. An dieser Stelle kann man zu Recht einwenden, dass es auch direktere Beteiligungsrechte für den Bürger gibt, die ihm ermöglichen, unmittelbar Einfluss zu nehmen und damit den Gedanken der repräsentativen Demokratie mit dem der direkten Demokratie zu konfrontieren. Im
Grundgesetz, das dem repräsentativen Demokratieverständnis folgt, ist zwischen Wahlen und Abstimmungen unterschieden worden. Mit Wahlen sind die regelmäßigen Wahlen zu den Volksvertretungen gemeint, während der Begriff der Abstimmung Plebiszite -
Volksbegehren,
Volksentscheid, Volksabstimmung - umfasst. Nur in Artikel 29 des Grundgesetzes bieten sich Möglichkeiten für Formen direkter Demokratie, jedoch eingeschränkt auf die Veränderungen von Ländergrenzen zwischen den Bundesländern:
- Volksentscheid: Bestätigung gesetzlicher Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes durch Volksentscheid (Art. 29, Abs. 2 GG);
- Volksbegehren: Einwohner bestimmter Gebiete können die Neuregelung ihrer Landeszugehörigkeit durch ein Volksbegehren erreichen (Art. 29, Abs. 4 GG);
- Volksbefragung: Mit ihr soll festgestellt werden, ob die vom Gesetz vorgeschlagene Neugliederung die Zustimmung der Betroffenen findet (Art. 29, Abs. 5 GG).
Hingegen ist in allen Landesverfassungen größerer Raum für weitere Instrumente direkter Demokratie gegeben. Die direkten Beteiligungsverfahren erfreuen sich seit einigen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland großer Beliebtheit. Von ihnen geht ein diskreter Charme der direkten Demokratie aus. Mit diesen Instrumentarien plebiszitärer Demokratie und der Auszehrung repräsentativer Formen scheint ein Allheilmittel gefunden zu sein, um das Unbehagen an der Politik, den Parteien und den politischen Institutionen aufzufangen. Die Kritik an der konkreten Gestalt der komplexen und schwerfälligen repräsentativen Demokratie ist gut verständlich und die Bereicherung der parlamentarischen Demokratie durch weitere plebiszitäre Elemente sicherlich auch nützlich. Doch unmittelbare, direkte Demokratie ist häufig auch Betroffenheitsdemokratie: möglichst ohne lästige Politiker, Parteien, Parlamente. Dabei wird durch direktere Formen das beschleunigt, was oft so mühselig im politischen Meinungsstreit erscheint: die argumentative Aushandlung der Entscheidung in Verhandlungssystemen. Was somit vermeintlich den Prozess der Entscheidungen verkürzt, beschneidet gleichzeitig auch wichtige Grundbedingungen unseres Demokratieverständnisses. Direkte Beteiligung der Bürger ist eine wichtige und sinnvolle Ergänzung der mittelbaren, repräsentativen Demokratie. Es sollte das repräsentative Demokratieprinzip dabei jedoch nicht ausgehebelt werden. Wenn Demokratie auf der
Freiheit beruht, sich politisch durch regelmäßige Wahlen zu organisieren, dann müssen bestimmte Grundfunktionen erfüllt sein, die nachfolgend noch einmal gebündelt aufgelistet werden.
Grundfunktionen und Merkmale demokratischer Wahlen: - Repräsentation des Volkes: Die Gewählten, z. B. die Abgeordneten, repräsentieren die Gesamtheit der Bürger. Repräsentiert wird das gesamte Volk. Jede soziale Gruppe muss sich an dem politischen Wettbewerb beteiligen können, um die Offenheit der Machtkonkurrenz zu gewährleisten. Repräsentative Demokratien verlangen Mehrheitsentscheidungen.
- Legitimation und Kontrolle von politischer Herrschaft: Durch Wahlen legitimieren die Wähler bestimmte Personen, politische Funktionen auszuüben. Diese Personen sind legitimiert, im Namen aller und für alle verbindlich zu entscheiden. Durch die regelmäßige Wiederholung der Wahl gewinnt sie die Funktion der Machtkontrolle. Die Opposition muss immer die Chance haben, an die Macht zu kommen.
- Integration der Meinungen: Die Wahl ist die Stimmabgabe jedes einzelnen Wahlberechtigten. Das Wahlergebnis spiegelt insgesamt die Willensartikulation der Wähler wider. Durch die Wahlen erfolgt eine Integration des gesellschaftlichen Pluralismus und die Bildung eines politisch aktionsfähigen Gemeinwillens. Letzteres ist jedoch auch vom jeweiligen Wahlsystem abhängig, das die Integration der Wählerschaft fördern oder auch hemmen kann. Nicht immer geht aus dem Wahlprozess eine handlungsfähige Regierung hervor. Je strikter sich die politischen und die sozialen Gruppen voneinander abkapseln, desto weniger sind die Funktionsbedingungen der Integration der Meinungen durch Wahlen zu erreichen.